Neue Geschäftsmodelle: Disruption ist nicht alles

Wer zukunftsfähig bleiben will, muss auch bewährte Geschäftsmodelle auf den Prüfstand stellen. Doch wie disruptiv muss man dabei vorgehen? Trotz teils dramatischer Umwälzungen gibt es Beispiele, wie Unternehmen neue Märkte erschließen, ohne ihre bisherigen Geschäftsmodelle einzureißen.

 

Bagger strecken ihre ausgefahrenen Arme in den Himmel. Ein buntes Heer von Radladern, Muldenkippern und Umschlagmaschinen wartet in Reih und Glied auf seinen Einsatz. Gigantische Greifer, Schaufeln, Bohrer, Abbruchzangen und Grabenräumlöffel runden den beeindruckenden Gerätepark ab. Etwa 200.000 Quadratmeter umfasst das Areal des Coreums im Gewerbegebiet von Stockstadt. Und es ist weit mehr als ein Präsentationszentrum für Maschinen. Für die Baubranche dient das Coreum – eine Wortschöpfung aus dem englischen „Core“ (Herz, Kern) und Forum – als Technologie- und Innovationsforum. Außerdem ist es eine Anlaufstelle für Aus- und Weiterbildung mit zahlreichen Schulungsmöglichkeiten. Auf Übungsstrecken und Musterbaustellen können die Maschinen getestet werden. Den Umgang mit dem Bagger kann man auch in einem 600 Quadratmeter großen, überdachten Sandkasten lernen. Gerade entsteht auf dem Gelände ein Recycling-Zentrum. Treibende Kraft hinter dem Projekt ist der Baumaschinenhändler Kiesel mit Stammsitz in Ravensburg. Der hatte 2004 in Stockstadt zunächst eine regionale Niederlassung errichtet. „Die ersten Ideen für das Coreum sind jetzt ungefähr zehn Jahre alt“, sagt CoreumGeschäftsführerin Kathrin Kiesel, Enkelin des Firmengründers. „Ziel war zunächst ein Aus- und Weiterbildungszentrum für Kiesel – und für unsere Kunden. Denn die haben die gleichen Probleme.“ Doch die Idee entwickelte sich weiter. Zum 60. Firmenjubiläum von Kiesel fand im Herbst 2018 die Eröffnung des Coreums statt. Das Unternehmen ist eine eigenständige GmbH. Kiesel ist Initiator, hat aber zahlreiche Partner ins Boot geholt.

Dramatische Verschiebung bei der Wertschöpfung

Es geht bei dem Projekt auch darum, die Branche erlebbar zu machen, Interesse für die Technik und die Berufe zu wecken und Schulen und Hochschulen nach Stockstadt zu locken. „Alles wird immer digitaler. Aber was wirklich hängen bleibt, ist doch das Erleben. Ein besonderer Ort, eine besondere Architektur, tolle Maschinen“, sagt Kathrin Kiesel. Für Martin Proba ist das Coreum ein gelungenes Beispiel dafür, wie man neue Märkte erschließt, ohne selbst-disruptiv zu werden – also ohne sein bestehendes Geschäftsmodell völlig über den Haufen zu werfen. „Die Baubranche ist sehr traditionell, und jetzt kann ich sie plötzlich ganz anders darstellen“, sagt der Leiter des Geschäftsbereichs Unternehmen und Standort der IHK Darmstadt. „Da sind nicht mehr nur die Bauarbeiter mit Helm, sondern da gibt es eine Erlebniswelt, die Spaß macht. Und wenn das Unternehmen dann noch sagt: ‚Ich verkaufe nicht nur Baumaschinen, sondern biete auch unterstützende Dienstleistungen wie Schulungen‘, dann erschließt es sich so einen neuen Markt.“ „Wir wollen den kompletten Prozess abbilden“, sagt Kathrin Kiesel. „Ein Garten- und Landschaftsbauer braucht ja nicht nur den Mini-Bagger, sondern auch den Anhänger, um die Maschine von A nach B zu bringen. Den kann er hier auch gleich testen. Ein Tiefbauer braucht nicht nur den Bagger, sondern auch Schalungen. Deswegen planen wir eine Kooperation mit einem Schalungsbauer.“ Kiesel hat sein Hauptprodukt – die Baumaschine – plattformfähig gemacht. Und Plattformen sind ein Geschäftsmodell mit großen Entwicklungsmöglichkeiten. In vielen Märkten hat sich in den vergangenen Jahren die Wertschöpfung dramatisch verschoben: weg von den Produzenten, hin zu den Vermittlern. Airbnb, Amazon oder Google bieten primär keine eigenen Produkte an, sondern vermitteln als Plattformen zwischen Anbietern und Nachfragern.

Plattformen – nicht nur für die Global Player

„Bereits jetzt haben sich zehn Prozent des Weltbruttoinlandsprodukts in das Plattform-Segment verlagert“, erklärt Holger Schmidt, Netzökonom und Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Darmstadt. Und diese Entwicklung sei noch lange nicht am Ende: Prognosen des Massachusetts Institute of Technology (MIT) gehen davon aus, dass sich der Anteil auf rund 30 Prozent erhöht. Wenn von Plattformen gesprochen wird, geht es meist um die Global Player. Der Grundgedanke von Plattformen ist jedoch die Vermittlung zwischen Angebot und Nachfrage. Und das funktioniert auch im Kleinen. Man muss dem Kunden einfach das bessere Modell bieten, wie Holger Schmidt sagt. „Lokale Anbieter kennen die örtlichen Gegebenheiten meist viel besser als ein weltweit agierendes Großunternehmen“, erklärt der Netzökonom. „Das birgt riesiges Potenzial, zum Beispiel für den Einzelhandel. Aber lokal werden Plattformen erst in Ansätzen praktiziert.“ Holger Schmidt vermisst in Deutschland den Mut. Das sei in den USA und in China anders. Dort sei man aggressiver, investiere mehr Geld und sehe Plattformen als Chance. „Wir reagieren hier oft erst, wenn jemand schon vor der Tür steht und unseren Markt anknabbert.“ Probleme sieht er besonders, wenn ein Unternehmen lange mit einem Produkt erfolgreich war. „Deutschland ist in vielen Bereichen Weltmarktführer. Eine Umstellung stößt auf Widerstand. Das macht uns angreifbar, weil wir lange bei unseren bewährten Modellen bleiben und zu wenig Begeisterung für neue Modelle entwickeln.“ Nach Ansicht des IHK-Experten Martin Proba gibt es Barrieren in den Köpfen mancher Unternehmer. Die IHK könne jedoch bei der Suche nach neuen Geschäftsmodellen unterstützen, indem sie Unternehmen als Sparringspartner diene und mit ihnen Ideen durchspiele. „Unser Vorteil ist, dass wir einen großen Horizont für die verschiedenen Einsatzmöglichkeiten für Unternehmen und Produkte haben“, sagt Martin Proba. „Wir haben keine Scheuklappen, sondern können Verbindungen ziehen und Kontakte knüpfen – in Bereiche, die ein Unternehmen oft nicht hat, auch mit Blick auf internationale Märkte.“ Doch auch wenn Plattformen viele Entwicklungschancen bieten – ein Patentrezept sind sie nicht. „Eine Plattform ist für viele, aber nicht für alle relevant“, sagt Holger Schmidt. „Das funktioniert nicht in drei Monaten und nicht mit 100.000 Euro. Da braucht man schon ein höheres Investitionsvolumen und einen langen Atem.“ Mit Blick auf neue Geschäftsmodelle ist für den Netzökonomen vor allem die Künstliche Intelligenz (KI) ein „Riesenthema“. Sie könne Unternehmen helfen, vorhandene Daten besser und intelligenter zu nutzen. Und das sei inzwischen nicht mehr nur Großunternehmen vorbehalten: „Die KI wandert gerade in die Cloud“, sagt er. „Viele Tools sind mittlerweile kostenlos.“ Damit können auch kleinere Unternehmen ihren Absatz besser prognostizieren, die Retourenquote senken oder Maschinen effizienter machen. „KI ist ein Game Changer für alle Märkte, nicht nur für die Großen“, sagt Holger Schmidt. Als Beispiel nennt er einen Reifenhändler. Dessen Hauptgeschäft konzentriert sich auf wenige Wochen im Frühjahr und im Herbst. „In dieser Zeit muss er wissen, welche Reifen nachgefragt werden, und diese schnell verfügbar haben. Dazu muss er wissen, wie sich ein Ferienbeginn, ein neues Modell, ein Reifentest des ADAC oder Angebote der Konkurrenz auswirken. KI kann ihn dabei unterstützen, die Daten besser zu nutzen.“ Die entsprechende Expertise ist in der Region auch vorhanden, wie Schmidt sagt. So könnten die Experten an der TU Darmstadt zum Thema KI beraten und unterstützen.

Mobilität und Logistik sind die großen Zukunftsthemen

Bei der Suche nach den Märkten der Zukunft war lange der Risikokapitalfluss ein guter Indikator. Das habe sich geändert, sagt Holger Schmidt. „Der Risikokapitalfluss steigt seit 2013 weltweit gigantisch. Das Motto ‚Follow the Money‘ ist schwierig geworden, weil sich fast alle Märkte auf Allzeithochs befinden.“ Das meiste Geld fließt nach seinen Erkenntnissen jedoch derzeit in Mobilität und Lieferdienste. „Das Automobil steht vor dem größten Wandel“, sagt er. Da geht es nicht nur um das Elektroauto und andere alternative Antriebstechniken, sondern auch um autonomes Fahren und Mobilitätsplattformen. Großes Potenzial sieht Holger Schmidt zudem in der Logistik-Branche: „Die ist hochgradig ineffizient. Ein Drittel der Lkw fährt noch immer leer.“ Mobilität und Logistik sind auch laut Martin Proba große Themen – gerade für einen attraktiven Markt wie das Rhein-Main-Gebiet mit seinen fast acht Millionen Konsumenten. „Die Region ist gut beraten, über das Automobil nachzudenken und das Thema Mobilität anders zu gestalten“, sagt der IHKExperte und schlägt dabei die Brücke zur Logistik. „Wir wollen alle den Verkehr reduzieren. Aber jeder will seine Sachen online bestellen. Das beißt sich in den Schwanz.“ Unabhängig von Technik, Branche und Geschäftsmodell – Veränderungen erfordern Mut. Baumaschinenhändler Kiesel brachte rund 30 Millionen Euro für das Coreum auf. Das ist die bislang größte Einzelinvestition in der Firmengeschichte. „Das war für uns natürlich auch ein Risiko“, sagt Kathrin Kiesel. Eine Erfolgsgarantie habe man vorher nie. „Aber jetzt sind wir zu 100 Prozent sicher, dass es funktioniert.“ Es sei schön zu sehen, wie die Vision angenommen werde. 2020 soll auch deswegen auf dem Coreum-Gelände ein Hotel für Übernachtungsgäste dazukommen. Das Erfolgsrezept für Kiesel: Zuhören und Gespräche mit dem Kunden führen. „Bei den Dienstleistungen, die man bietet, muss man sich dann abheben und positiv anders sein.“

Dieser Artikel erschien in der IHK-REPORT Ausgabe 06-2019

Seitenanfang